Die Quelle der
Weisheit
Sajid wohnte am
Rande der Wüste, nahe den Pyramiden. Als seine Erinnerungen waren
geprägt von diesem Bild. Seit er denken konnte, hatte er sie betrachtet,
bei Sonnenaufgang wenn er wach wurde, ebenso wie in der Nacht, wenn er
sich schlafen legte. Sie waren wie eine Familie für ihn. Wenn es in der
Mittagszeit zu heiß war, um zu arbeiten, saß er an ihrem Sockel und ließ
die schattige kühle in sich einwirken, wenn er einsam war, suchte er
Trost bei der Sphinx und stellte sich vor, wie es wäre, zwischen ihren
großen Pranken Schutz zu finden, Schutz vor den Ängsten, die Ihn ohne
Vorankündigung überkamen, meistens in der Nacht. Dann wachte er
schweißgebadet auf, mit einem Herzrasen unbekannter Natur und konnte
sich erst wieder beruhigen, wenn er den vertrauten Sternenhimmel am
Firmament erkannt, hier war er zu Hause eingebettet in den noch warmen
Sand von der Mittagshitze und behütet von der kühle der Nacht. „Was
geschieht mit mir?“ fragte er sich immer wieder. Er fragte die Eidechse
im Sand „Kannst du mir helfen“ und erklärte ihr was ihm widerfahren war.
„Hilf du dir selbst!“ rief sie ihm über die Schulter zu und verschwand
blitzschnell zwischen einigen Steinen. „Wegen dir habe ich damals meinen
Schwanz verloren, erinnerst du dich?“ „Oh ja“ er erinnerte sich, „Na ja,
ich wollte nur einen Freund haben, aber du wolltest dich bei mir
bleiben, tut mir leid, ich wusste es nicht besser“ rief er ihr
hinterher. „Und du“ fragte er ganz betrübt eine kleine Ameise, die über
seinen Handrücken kroch. Er hob die Hand ganz nah vor seine Augen. „Hör
auf, mich mit deinen großen Augen anzustarren, und untersteh dich mich
anzufassen mit deinen tollpatschigen Fingern, du hast mir damals mein
Haus zerstört!“ Sajid konnte sich nicht erinnern. „Ich weiß von keinem
Haus“ antwortete er empört „Haus ist noch viel zu wenig, es war eine
ganze Wohnsiedlung, aber du musstest ja ausgerechnet auf unseren
Ameisenhügel pinkeln, für uns war das als wäre ein Staudamm gebrochen
und hat unser ganzes Dorf überschwemmt“ „Tut mir leid“ brummelte Sajid
kleinlaut vor sich hin“ kommt nicht wieder vor“ „schon gut, du brauchst
nicht gleich zu flennen und pass in Zukunft auf wo du hinlatschst“ Und
als hätte sie ein Grinsen im Gesicht „bevor du wieder ganze Familien in
den Ruin treibst“ Sajid trottete mit hängenden Ohren an einem Distelhain
entlang, als er eine Spinne bemerkte, die gerade dabei war, ein
wundervolles Muster zwischen zwei trockenen Grashalmen zu weben. „Bleib
mir ja vom leib, die nichtsnutziger Tölpel, hast du überhaupt eine
Ahnung, wie lange es dauert ein Netz wieder zu flicken, wenn du es im
Vorbeischlendern kaputt gemacht hast, Stunden!“ rief sie. „Was sag ich,
Ewigkeiten!“ „Wegen dir könnte man glatt verhungern. Geh mir aus den
Augen!“ Bevor Sajid überhaupt etwas sagen können, purzelte ihm eine
Träne aus den Augen, genau in das Spinnennetz. Die Spinne schaute ihn
von unten her betroffen an „nun nimms nicht so schwer, eigentlich war
ich ja nach 20 Minuten schon wieder fertig damit. Hier nimm“ sie hilft
ihm ein großes gelbes Blatt hin „und schnäutz dir endlich die Nase. Ich
glaub du brauchst professionelle Hilfe, in dem Zustand kann man dich ja
nicht alleine lassen. Siehst du da vorne den ausgetrockneten Brunnen!
Dort wohnt schon seit über hundert Jahren eine kleine Schlange, eine
Sandviper, um genau zu sein. Sie wird dir helfen. Sie kennt die Zukunft
ebenso wie die Vergangenheit, man sagt, sie lebt zwischen den Welten.“
„Was heißt das“ fragte Sajid erstaunt und wischte sich die Nase mit dem
Handrücken „das heißt“ sprach die Spinne altklug, wie eine
Gymnasiallehrerin „Ihr Körper liegt da vorne neben dem Brunnen, in der
Erde eingegraben, als wäre sie tot, aber ihre Gedanken sind hell wach,
man sagt, sie spricht mit Ihren Ahnen. Seit der Brunnen nicht mehr
fließt, ist sie so allen, das dies für sie der einzige Weg ist, die Zeit
sinnvoll zu verbringen. Also nähere dich vorsichtig, erschrick sie nicht
und setz dich abwartend vor ihr in den Sand, bis sie bereit ist, in die
Gegenwart zurück zu kommen. Sajid bedankte sich artig und tat wie
geheißen. Fast wäre er eingeschlafen, so lange hatte er gesessen als er
bemerkte, dass sich zwischen seinen Füßen etwas bewegte. Neugierig hob
sich der schlanke Kopf der Schlange aus dem Sand. Ihr Körper bewegte
sich wendig hin und her. „Man hat nach mir gerufen?“ Fragte sie mit fast
Aristokratischer Anmut „WER ruft nach mir und was ist dein Begehr?“
Sajid warf sich vor ihr auf die Knie „Oh Mutter der Wüste…“ begann er,
als sie ihn unsanft unterbrach „Nun übertreib nicht gleich, oder… …sehe
ich wirklich so alt aus?“ fragte sie pikiert. „Keinen Tag alter als
zwanzig“ rief Sajid, aus Angst sie würde wieder im Sand entschwinden „Du
Schmeichler“ gurrte sie besänftigt und ließ sich die ersten
Sonnenstrahlen auf den Bauch scheinen. „Nun denn, zu deinem Hier sein,
was hast du auf dem Herzen?“ „Nun, ich, ich, “ stammelte er vor sich
hin. „Nun krieg dich wieder ein, tue einfach so, als wäre ich nicht da“
flüsterte sie ihm ins Ohr und schlängelte sich an seine Schulter hoch,
bis in seinen Nacken „ich H Ö R E…“. Sajid brach der Schweiß aus, genau,
wie vorhin im Schlaf und er bekam Herzrasen, genau wie vorhin im Schlaf.
„Siehst du“ sagte die Schlange und Weißheit klang aus Ihrer Stimme „Du
hast die die Antwort selbst gegeben: Es ist nichts anderes, als die
Angst vor dem Unbekannten, aber deine Neugier um das Wissen war stärker
als deine Angst, sonst hättest du dich von mit geschleudert und wärst
weg gerannt und…“ sie schmunzelte allwissend vor sich hin „und hättest
wohl im Eifer des Gefechts ein Spinnennetz zerrissen, eine
Ameisenfamilie ins Unglück gestürzt und einer Eidechse auf den neuen
Schwanz getreten!“ Sajid konnte sich ein verlegenes Grinsen nicht
verkneifen „ABER“ für die Königin der Wüste fort „du hast deine Angst
besiegt, weil du dich der Herausforderung gestellt hast. „Du siehst, du
bist noch am Leben, zwar Schweißgebadet (unter uns) du muffelst, aber am
leben“ „Und mir fällt ein Stein vom Herzen“ freute sich Sajid „ich bin
so froh das ich zu dir gekommen bin, ich könnte die ganze Welt umarmen.“
„Nun übertreib mal nicht gleich wieder, wie wär’s, wenn du bei mir
anfängst“ „Igitt eine Schlange“ rief Sajid im Spaß, küsste sie auf die
Nase und hob sie hoch über den Kopf und tanzte ausgelassen im Kreis
herum „lass mich herunter“ flehte die Schlange „Mir wird schwindelig!“
„Entschuldige“ Sanft setzte er sie im Schatten des ausgetrockneten
Brunnen ab und setzte sich selbst neben Sie. „Und sei nicht mehr
traurig, dass der Brunnen versiegt ist, glaub mir, die Menschen werden
wieder kommen zum Brunnen, vielleicht nicht um Wasser zu trinken, sonder
um dir zuzuhören DU bist jetzt die Quelle, die Quelle der Weißheit“ Die
Schlange war tief gerührt, als er so sprach und ihr dabei liebevoll über
den Rücken strich „Sieh nur“ und beide Schauten an den Horizont: Die
Pyramiden waren zwar erst als Schatten erkennbar, aber sie wussten
beide, auch diese Schatten würden verschwunden sein, wenn das Licht das
Dunkel vertrieben hatte und das Unbekannte zu einem vertrauten Freund
gewesen war.
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